Das NSU-Urteil und die Grenzen des Rechtsstaates
erstellt von
Prof. Dr. Hajo Funke
für den Türkischen Bund in Berlin-Brandenburg
Einen Schlussstrich ziehen wir nicht.
Die Entfesselung einer neuen gewalttätigen rechtsextremen Bewegung in den frühen neunziger Jahren war eine zentrale Voraussetzung für den späteren Rechtsterrorismus des NSU. Denn der NSU entstand nicht zufällig in einer Region Deutschlands, in der diese Entfesselung am weitesten vorangetrieben worden war: im Thüringer Heimatschutz unter der Leitung eines Spitzen-V-Manns des Thüringer Verfassungsschutzes, nämlich von Tino Brandt. Der Verfassungsschutz hatte Tino Brandt so geschützt, dass ihm auch Anzeigen und Struktur-Ermittlungen durch die Polizei über einen entscheidenden Zeitraum nichts anhaben konnten: Er war jenseits der gewaltengeteilten Demokratie von Teilen des Landeskriminalamts, Teilen der Justiz und vor allem vom dortigen Verfassungsschutz gedeckt. Dies hat ihm und den Neonazis einen ungeheuren Spielraum verschafft und den Alltagsterror in Jena für die von ihnen ausgesuchten Gegner unerträglich gemacht. Ohne diese Entfesselung rechter Gewalt, hätte sich die NSU-Terrorgruppe kaum so bilden können.
Im Bericht wird die Radikalisierung in den Terror in Thüringen durch vor allem neonazistische Kader nachgezeichnet. Anhand der Attentate des NSU in Nürnberg, Köln und Kassel wird analysiert, warum Teile der Sicherheitsbehörden versagt haben und auch nach 2011 nicht an einer umfassenden Aufklärung interessiert waren. Der erbitterte Kampf um Wahrheit scheiterte weitgehend deswegen, weil das geheime Wissen Zuständiger, insbesondere der Verfassungsschützer, vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten wurde, um sowohl die V-Leute des Verfassungsschutzes wie den Verfassungsschutz selbst vor einer Aufklärung und damit einer fundamentalen Reform zu schützen. Der Verfassungsschutz betrieb Selbstschutz statt Schutz der den Sicherheitsbehörden Anvertrauten – ein Staat im Staat.
Dieser ungeheure Tatbestand zeigt sich in den dramatischen Berichten der Nebenkläger*innen in ihren Plädoyers im Münchner NSU-Prozess. Offensichtlich kam es durch die Aufklärungsblockade und die Hindernisse im Prozess vielfach zu einer Verschärfung der Traumata der Opfer-Familien. Ihre Bilanzen sind Beispiele einer Täter-Opfer-Umkehr. Aus ihnen wird sichtbar, dass die Aufarbeitung der NSU Mordserie weitgehend gescheitert ist. Das auch deshalb, weil sowohl das Gerichts als auch der Generalbundesanwalt es abgelehnt haben, das Verfahren auf das Umfeld der Angeklagten auszuweiten,
In der Analyse des Urteils wird dies daran sichtbar, dass zwar die Hauptangeklagte verurteilt worden ist, aber die Strategen des gewaltbereiten Neonazismus mit überraschend milden, mit Kopfschütteln bedachten Urteilen davongekommen sind und sich in ihren neonazistischen Aktivitäten ermuntert sehen.
So zeigt auch das Urteil, dass es sich um eine weithin verpasste Chance der Aufklärung gehandelt hat. Inzwischen hat der Generalbundesanwalt Revision beantragt.
Umso entschiedener ist die Gesellschaft – nicht zuletzt die Zivilgesellschaft, aber auch Medien – herausgefordert, den Schaden für die Sicherheit und für das Bewusstsein von den Gefahren von ganz rechts wachzurufen und wach zu halten. Am Beispiel der dramatischen Wiederkehr von Rassismus und Ressentiments gegen Migranten, Muslime und Geflüchtete durch Rechtspopulisten und Rechtsradikalen wird Art und Ausmaß dieser Herausforderung klar, will man nicht die Sicherheit der Menschen durch rechte Gewalt und die Demokratie und ihre Grundlagen selbst noch weiter gefährden.
Im Lichte der Ergebnisse empfiehlt der Bericht unmittelbare Konsequenzen
Die Lehren, die aus dem „Skandal“ (so Bundesjustizministerin Ministerin Barley) politisch, öffentlich und sicherheitspolitisch gezogen werden sollten:
- Eine größere durch öffentlichen Druck erzeugte Sensibilisierung in Sachen rassistischer Verbrechen;
- eine erhöhte Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden; Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften;
- die Offenlegung aller Dokumente und Erteilung von Aussagegenehmigungen für alle involvierte Personen;
- erweiterte Kompetenzen der Untersuchungsausschüsse, etwa nach dem Vorbild US-amerikanischer Untersuchungsausschüsse bzw. des Instituts des Sonderermittlers, der unmittelbar Akten anfordern und eigene Ermittlungen anstellen kann;
- und eine Öffentlichkeit, die sich nicht mehr wegduckt, sondern eine rückhaltlose Aufklärung durchsetzen will;
- und schließlich ein Parlament, das auf Konsequenzen, insbesondere in der Reform der Sicherheitsarchitektur pocht.